Oktober 2008, Bangkok
Ich bin wiedermal in diesem bunten, Tag und Nacht pulsierenden und – auch gemessen an asiatischen Standards - unglaublich facettenreichen Konglomerat von Menschen, Gerüchen, Märkten, Religionen, Weltanschauungen. Ich muss vorausschicken: Ich hasse (Groß)Städte. Und ich liebe Bangkok. Warum? Wie es halt oft so ist mit der Liebe. Zur Gänze kann man sie nie erklären, mit einmal war sie da, diese tiefe Zuneigung zu Land und Leuten, zu diesem verrückten thailändischen Moloch mit seinen Garküchen, Märkten, der (scheinbaren) asiatischen Gelassenheit, dem Familiensinn und dem Traditionsbewusstsein der Menschen, die auch in der Großstadt nicht verloren gehen.
Doch zurück zum Herbst 2008: Mein Mann absolviert auf den Airbussen der Thai Airways ein sogenanntes Praxistraining (für alle, die es interessiert: auf AB 340-600) und ich habe Zeit und Tagesfreiheit, in und um Bangkok herumzustreifen. Der Kollege, bei dem wir wohnen, meint, wir müssten unbedingt den Tigertempel besuchen: „So was habt ihr noch nicht gesehen, da könnt ihr Tiger streicheln!“ Tiger streicheln? Nun, das stand eigentlich nie ganz oben auf meiner Prioritätenliste der Dinge, die ich noch machen wollte in meinem Leben. Aber gut, auf zu neuen Ufern, fahren wir halt Tiger streicheln. Ein Freund bringt uns zum gut zwei Stunden westlich von Bangkok gelegenen Wat Pa Luangta Bua Yannasampanno-Kloster, wie der „Tigertempel“ auf thailändisch heißt. Da angekommen, werden wir durch ein parkähnliches Gelände, in dem Dammhirsche, Rinder, Schweine, und andere Tiere frei herumlaufen hin zur „Tigershow“ geführt.
Wir Touristen kommen auf unsere Kosten. Es gibt Tiger zum Streicheln satt. Tiere allen Alters werden uns präsentiert. Und alle können angefasst und den Babys sogar das Fläschchen gegeben werden. Wer will, kann einen ausgewachsenen Tiger wie einen Hund an der Leine führen: ein „Highlight“, das ich dankend ablehne. Die zentrale Figur des ganzen Schauspiels ist der Abt des Klosters, Phra Acharn, der die Zutraulichkeit der Tiere mit „Seelenübertragung“ erklärt. „Die Tiger sind wiedergeborene Verwandte“, sagt er. Den westlichen BesucherInnen scheint die Erklärung zu genügen. Die Fotoapparate laufen heiß, die Touristen schmelzen dahin, die herumgereichte Spendenkasse klingelt.
Lange Zeit später noch beschäftigt mich der Umstand, warum diese Tiere so ruhig, fast teilnahmslos sind. Wie kann es sein, dass ausgewachsene Tiger kein Ohr rühren, wenn ein Wildschwein vor ihrer Nase vorbeiläuft (von der leicht zu jagenden menschlichen Beute mal ganz abgesehen)? Wo bleibt der Jagdinstinkt? Kann dieser wirklich weggezüchtet werden? Vielleicht bin ich zu kritisch, aber mir genügt die Erklärung, dass die Tiere gut gefüttert werden und „Seelenverwandte“ vom Abt sind, nicht.
Große Gewinnspannen und kaum ein Wagnis
Wieder zuhause, habe ich für mich ein wenig recherchiert und bin auf etliche Ungereimtheiten und einen bösen Verdacht in Zusammenhang mit den friedlichen Mönchen, die den Tigern „eine der letzten Zufluchtsstätten“ bieten, gestoßen: Der „Tiger-Tempel“ soll in illegalen Wildtierhandel verstrickt sein und satte Gewinne mit dem Verkauf der wertvollen Tiere machen. Und es würde ja auch Sinn machen. Kein anderes Tier, das sich so uneingeschränkt verwerten lässt. Alles am Tiger ist zu gebrauchen: Fell, Fleisch, Knochen, Tatzen, Krallen, Schnurrhaare, Zähne und nicht zuletzt der Penis erzielen am Schwarzmarkt Spannen, von denen Goldhändler nicht zu träumen wagen.
Über verschiedene Zwischenstationen sollen die meisten Tiger in China landen, das zwar offiziell den Handel mit Tiger(teilen) verboten hat, das sich aber einer gesteigerten (westlichen!) Nachfrage nach TCM-Präparaten gegenübersieht. Tiger-Präparate sind wertvollster Bestandteil mancher TCM-Rezepturen.
The show must go on
Im Tigertempel führt Abt Phra weiterhin Tag für Tag seine Seelenverwandten einer staunenden Schar von Touristen vor. Fassade, um vom großen Geschäft abzulenken? Oder echte Tigerliebe?
Heidelinde Lück